Datensouveränität, Innovation, Sicherheit:
Darum setzen deutsche Unternehmen auf Edge Computing
Was treibt Investitionen in Edge Computing hierzulande? Warum ziehen es Unternehmen vor, ihre Daten lokal, auf Servern oder Geräten in der Nähe des Netzwerkrands anstatt zentral in einem Cloud-Rechenzentrum zu verarbeiten? Die aktuelle gridscale-Studie zu »Edge Computing in Deutschland, Österreich und der Schweiz 2024« liefert erstmals fundierte Fakten zu den Beweggründen der Unternehmen für eine lokale Verarbeitung der Daten. Dr. Andreas Stiehler fasst als Analyst und Autor der Studie die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.
Welche Motive sprechen für Edge Computing?
Bietet Edge Computing deutschen Unternehmen die Möglichkeit, innovative Digitalisierungsprojekte umzusetzen oder ist es doch nur eine Notlösung für cloud-skeptische IT-Entscheidende? In IT-Fachkreisen wird diese Frage bis heute kontrovers diskutiert – so auch im gridscale-Trend-Report aus dem Jahr 2023, der auf ausführlichen Interviews mit renommierten Edge- und Cloud-Computing-Expertinnen und -Experten basiert. Das Ergebnis unserer damaligen Betrachtung: Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung, auch wenn sie zunächst widersprüchlich erscheinen. Einerseits ist die Cloud-Migration in vielen Unternehmen bislang nicht abgeschlossen – insbesondere, weil sich viele Verantwortliche noch schwertun, Kontrolle abzugeben.
Andererseits kommt das Cloud-Modell bei der Realisierung vieler innovativer Anwendungsszenarien tatsächlich an seine Grenzen – speziell dann, wenn es gilt, Massendaten in Echtzeit kostengünstig zu verarbeiten. Offen blieb bei der Veröffentlichung des Edge-Computing-Trendreports 2023 jedoch, welche Beweggründe Unternehmen haben, trotz vielfältiger Cloud-Angebote weiterhin auf eine dezentrale Datenverarbeitung setzen.
Die im Mai 2024 veröffentlichte gridscale-Studie »Edge Computing in Deutschland, Österreich und der Schweiz« verspricht nun Aufklärung. Als Grundlage hierfür diente eine Befragung von mehr als 200 IT-Entscheider:innen in Unternehmen der DACH-Region (ab 50 Mitarbeitenden) durch das Analystenhaus techconsult.
Edge Computing: Notlösung und Innovationsmotor zur gleichen Zeit
Beide Beweggründe sind für die IT-Entscheider heute in ähnlich hohem Maße relevant. Die Tatsache, dass viele Unternehmen eine lokale Datenverarbeitung bevorzugen, hängt immer noch mit dem Wunsch nach mehr Kontrolle über die eigenen Daten zusammen. Immerhin 46 Prozent der Befragten stufen diesen Beweggrund als »sehr wichtig« ein. Korrespondierend dazu wünschen viele IT-Entscheidende, dass die Datenverarbeitung in lokaler Nähe und unabhängig von der Internetverbindung stattfindet. Kritische Stimmen sprechen in diesem Zusammenhang auch von der »Angst des Kontrollverlusts«.
Der Bedarf an Infrastruktur-Diensten, die von spezialisierten RZ-Betreibern lokal in der Nähe von Industrieparks und Metropolen bereitgestellt werden, wird aller Voraussicht nach in den nächsten Monaten und Jahren spürbar steigen. Dies dürfte auch für Bewegung in der Cloud-/Edge-Anbieterlandschaft sorgen. Schließlich reift ein neuer Markt für Public Edge Services heran, den es zu erschließen gilt.
Gleichzeitig nutzt ein Großteil der Unternehmen heute die Möglichkeiten des Edge Computing ganz bewusst, um eine bessere User Experience (UX) zu gewährleisten, Kosten zu sparen oder um die Einführung innovativer Echtzeitanwendungen zu unterstützen. Die Detailauswertung zeigt, dass besonders viele mittlere und vor allem große Unternehmen heute bereits auf Edge Computing setzen. Was kaum überrascht, da größere Unternehmen ein wesentlich höheres Automatisierungspotenzial aufweisen und zudem über mehr Ressourcen für die Umsetzung innovativer Digitalisierungslösungen verfügen als kleinere Akteure.
Die dynamische KI-Entwicklung ist hierbei der wichtigste Impulsgeber. Mehr als 20 Prozent der Befragten (45 von 201) weisen bei der offen gestellten Nachfrage, welche innovativen Lösungen mit Edge-Computing-Bedarf derzeit konkret in Planung und Umsetzung sind, explizit auf Investitionen im KI-Umfeld hin. Viele weitere Nennungen deuten auf ein dynamisches Innovationsgeschehen bei Themen wie Industrie 4.0, IoT, Robotics, Smart Health oder Smart City hin, bei denen KI ein integraler Bestandteil der Lösung ist.
»Sehr Wichtig« als Grund für den lokalen IT-Infrastrukturbetrieb (nach Größe der Unternehmen)
▮ Einführung innovativer Digitalisierungslösungen mit hohem Bandbreitenbedarf und Latenzanforderungen (KI, IoT etc.)
▮ Einführung innovativer Digitalisierungslösungen mit hohem Bandbreitenbedarf und Latenzanforderungen (KI, IoT etc.)
Quelle: techconsult im Auftrag der gridscale GmbH, April 2024 | Basis: 201 Unternehmen DACH-Region, Rundungsdifferenzen möglich
Auszug aus den offenen Nennungen zu »innovativen Anwendungsszenarien, die derzeit in Planung / Umsetzung sind und Edge Computing erfordern« +++ intelligente Fertigung und Optimierung der Produktionsprozesse durch Analyse der Produktionsdaten in Echtzeit +++ intelligente Gebäude durch Sensordaten für Raumtemperatur und Beleuchtung sowie für Zutrittskontrollen zu Gebäuden +++ Steuerung von elektrischen Einrichtungen +++ digitaler Zwilling +++ RFID-Verfolgung von Produkten +++ verbesserte Lagerhaltung und Überwachung der Produktion +++ Data Management, Data Marketplace, Data Fabric +++
Kurz zusammengefasst: Die Studienergebnisse bestätigen bis hierhin, dass sowohl der Wunsch nach Kontrolle über die eigenen Daten als auch die fortschreitende Digitalisierung zentrale Beweggründe für die lokale Datenverarbeitung im Sinne von Edge Computing sind.
Edge Computing punktet auch bei Sicherheit und Datenschutz
Damit aber nicht genug, die Ergebnisse der Untersuchung deuten noch auf einen dritten zentralen Beweggrund: Sicherheit und Compliance. Tatsächlich rangiert »Höhere Sicherheit« bei den als »sehr wichtig« eingestuften Gründen für die lokale Datenhaltung mit 53 Prozent ganz oben auf der Liste. Zudem verweist ein signifikanter Anteil der Unternehmen auf Vorschriften bzgl. der Datenresidenz.
Auch in den offenen Nennungen zu konkreten Gründen für die lokale Datenhaltung wiesen zahlreiche Teilnehmende (explizit oder implizit) auf Sicherheitsaspekte hin – wobei unterschiedliche Mehrwerte von Edge Computing im Hinblick auf Datensicherheit und Datenschutz herausgestellt wurden:
- Lokale Verschlüsselung: Edge Computing, so wird wiederholt ausgeführt, bietet die Möglichkeit zur lokalen Verschlüsselung der Daten – bevor ein Teil davon anschließend in anonymisierter Form zu Weiterverarbeitung in eine zentrale Cloud gesendet wird.
- Backup-Möglichkeiten: Einige Teilnehmer verwiesen auf den Einsatz von Edge-Computing-Ressourcen (z. B., auf Geräten vor Ort) zur Erstellung lokaler Backups, um bei Ausfall eine schnelle Wiederherstellung der Systeme zu gewährleisten.
- Ausfallsicherheit und Redundanz: Da die Übertragung von Daten in die zentrale Cloud entfällt, werden nicht nur die Kosten, sondern auch Risiken durch einen Ausfall der Internetverbindung reduziert. Zudem bietet sich die Möglichkeit, auf lokaler Ebene redundante Datenverarbeitungssysteme zu errichten. Wenn ein Gerät ausfällt, kann ein anderes übernehmen.
- Geringere Angriffsfläche: Insgesamt, so argumentieren verschiedene IT-Entscheider, lässt sich durch lokale Datenverarbeitung die Angriffsfläche für Cyber-Kriminelle deutlich reduzieren.
- Richtlinien: Schließlich verweisen zahlreiche Befragungsteilnehmer auf gesetzliche, branchen- oder unternehmensspezifische Vorschriften und Richtlinien, die ausdrücklich eine lokale Verarbeitung sensibler Daten vorsehen.
Gründe für lokale Infrastruktur – Auszug aus den offenen Nennungen +++ Gewährleistung der Sicherheit, die Überschaubarkeit der Infrastruktur, Verschlüsselungsmöglichkeit sensibler Daten +++ jederzeit Zugriff auf wichtige Dateien, jederzeitige Möglichkeit der Optimierung durch umfangreiche Analyse +++ niedrige Latenzzeiten und eine schnellere Reaktionszeit für Anwendungen wie loT, Industrie 4.0 oder Automatisierung +++ Die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und der Datenschutz +++ Anwendungen, die eine schnelle Reaktionszeit erfordern, wie zum Beispiel loT-Geräte +++ Backup-Möglichkeiten und Datensicherheit+++
Fazit: Unternehmen benötigen eine fundierte Edge- / Cloud-Strategie
Insgesamt betrachtet bieten die Studienergebnisse Anlass dazu, sich bei der Bewertung des Marktgeschehens im Cloud- / Edge-Umfeld nicht von Pauschalurteilen leiten zu lassen. Die zu Beginn dieses Beitrags diskutierte Frage, ob Edge Computing den Unternehmen eher als Notlösung für Cloud-Skeptiker oder als Innovationsmotor dient, lässt sich auch nach Analyse der Studienergebnisse nicht eindeutig beantworten. Bei den Entscheidungen für einen lokalen Infrastrukturbetrieb spielen in den meisten Unternehmen offensichtlich sowohl ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis der IT-Entscheidenden als auch der Druck zur Unterstützung von KI-basierten Digitalisierungslösungen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen noch Sicherheits- und Datenschutzaspekte.
Tatsächlich stehen die Unternehmen heute vor einem gravierenden Umbau ihres Infrastrukturbetriebs, wobei der Fokus nicht mehr allein nur auf der Cloud-Migration, also der Überführung von Workloads in zentrale Rechenzentren liegt. Die IT-Entscheidenden sind ebenso gefordert, Möglichkeiten zur lokalen Datenverarbeitung neu zu justieren und ggf. auszubauen. Das Ziel sollte sein, innovative Anwendungsszenarien mit der bestmöglichen Kombination an Computing-Ressourcen innerhalb des Cloud-Edge-Kontinuums zu unterstützen.
Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen die Unternehmen eine fundierte Edge- / Cloud-Strategie. Ausgehend von künftigen Anwendungsszenarien gilt es, einen passenden Architekturmix zur Verarbeitung verschiedenen Workloads zu definieren – wobei technische, betriebswirtschaftliche und rechtliche Faktoren ebenso wie Sicherheits- und Datenschutzaspekte zu berücksichtigen sind (wie in dieser Spotlight-Analyse erläutert).
Dr. Andreas Stiehler
Dr. Andreas Stiehler begleitet als IT-Analyst, Autor und Berater seit mehr 20 Jahren Forschungs- und Beratungsprojekte zum digitalen Wandel. Seine Kernthemen sind hierbei Digital Work & Digital Workplace, Kundenservice im digitalen Wandel sowie das Management von Wissensarbeit(enden). Der promovierte Volkswirt mit Schwerpunkt auf Verhaltensökonomie setzt sich dafür ein, den digitalen Wandel ganzheitlich zu betrachten und dabei die Menschen stärker in den Fokus zu rücken.
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